„Das Leitbild der Baukammer ist gefährlich und falsch“

Wo sind Flächen, die ältere Kleingärtner nicht mehrbewirtschaften können?

Der Präsident der Gartenbau-Gesellschaft schlägt Lösungen im Bebauungsstreit vor.
Klaus Neumann, 69, ist seit 2016 Präsident der Deutschen Gartenbau-Gesellschaft und emeritierter Professor für „Urbanes Pflanzen- und Freiraum-Management“ im Studiengang Landschaftsarchitektur der Beuth-Hochschule Berlin. Der Landschaftsarchitekt ist auch Sachverständiger für Landschafts- und Naturschutz. Es befasst sich intensiv mit der Bedeutung von Kleingärten.

Herr Neumann, haben Sie dem Papst schon einen Dankesbrief geschrieben?

(Neumann lacht) Nein.

Falsch wäre es nicht, immerhin zitieren Sie ihn gern bei der Verteidigung von Kleingärten mit einem seiner Sätze. In einer Enzyklika sagte er: „Es entspricht nicht dem Wesen der Bevölkerung dieses Planeten, immer mehr von Zement und Asphalt bedeckt zu werden.“

Ja, ich habe diesen Satz zuletzt bei der Grünen Woche zitiert. Danach schrieb mir jemand erzürnt, dass man im unchristlichen Berlin nicht denPapst zitieren müsse.

Dann zitieren wir mal Christian Müller, Vorstandsmitglied der Berliner Bau-Kammer, der die Randbereiche der Kleingärten in Berlin bebauen will. Im Tagesspiegel sagte er vor kurzem: „In zwei Jahren könnten dort mehrere Tausend neue Wohnungen zugünstigen Mieten stehen.“ Gefällt Ihnen die Idee? Sie werfen Kleingärtnern doch egozentrisches Denken vor.

Zunächst muss man so einer Stellungnahme von Herrn Müller dankbarsein. Sie weist darauf hin, dass Berlin einen immensen Bedarf an allenmöglichen Baumaßnahmen hat. Wir reden ja nicht bloß über vieletausend Wohnungen, sondern auch über zwei Schwimmbäder, 120 neue Fußballfelder, 3400 neue Kitaplätze. Bedeutet: Die Stadt ist zuklein. Ich kann in einer Stadt alles neu bauen und vergrößern, nur eineskann ich nicht vermehren: den Faktor Raum.

Und genau deshalb darf man jetzt nicht mit Einzelinteressen vorstoßen. Wir haben in Berlin zum Beispiel ein Kinderspielplatz-Gesetz. Demnach hat jedes Kind einen Spielfläche von einem Quadratmeter. Wenn siejetzt hochrechnen, wie viele Menschen in die Stadt kommen, fehlen uns Spielplätze mit der Größe von 150 Fußballfeldern. Dieses Denken in Zahlen ist von gestern, das ist nicht zukunftsorientiert.

Wie denkt man dann zukunftsorientiert?

Wir müssen die Stadt neu erfinden, mit allem, was zur Verfügung steht. Es gibt vier Möglichkeiten: Ich kann a) höher bauen. Also mehr Hochhäuser. Oder b), ich kann dichter bauen. Und das betrifft nicht nur Hochhäuser, man kann ja auch Kleingärten verdichten. Für viele ältere Menschen ist die bisherige Parzellengröße von fast 400 Quadratmeterohnehin zu groß. Da kann ich mehr Parzellen haben, ohne dass ich insgesamt Kleingartenflächen verliere.

Und die Varianten c) und d)?

Man kann auch nach oben oder nach unten gehen. Man sieht das an einem Baumarkt in Kreuzberg, auf dessen Dach ein Fußballplatz ist. Dafinden sogar Spiele des Berliner Fußballverbands statt. Oder man könnte überlegen, dass das Blech, sprich die Autos, nach untenkommen. An der Goerzallee gibt es einen Einkaufmarkt, der hat dasgesamte Erdgeschoss als Parkplatz eingerichtet. Darüber sind dieVerkaufsflächen.

Direkt daneben ist ein großer Baumarkt, der hat 200 Stellplätze auf Beton, ohne ein Stückchen Grün. Das können wir uns in der Stadt der Zukunft nicht mehr erlauben. So sehr die Anregung der Baukammerpartiell richtig ist, so sehr orientiert sie sich an einem Leitbild der Vergangenheit. Es geht nicht mehr, dass man nur noch freie Flächenberücksichtigt.

Verdichten ist also keine Lösung?

Tja, wollen wir so wohnen wie in Singapur oder in Hongkong? Nur Hochhäuser, die Schweinezucht im 18. Stock und der Spielplatz im 14.Geschoß? Deshalb betrachte ich dieses Leitbild der Baukammer als ganz gefährlich und grundsätzlich falsch. Aber das gilt für alle, die nur ihre Einzelinteressen im Blick haben.

Christian Müller argumentiert allerdings auch ökologisch. Jede Wohnung, die nicht in Berlin gebaut werde, löse mindestens zehn Kilometer mehr Verkehr aus, weil die Leute zum Beispiel mehr zur Arbeit fahren müssten. Im Umkehrschluss: Je mehr Wohnungengebaut werden umso weniger Feinstaub.

Es stimmt ja, dass es mehr Verkehr gibt, wenn eine Wohnung nicht in Berlin gebaut wird. Deshalb bin ich ja auch nicht gegen den Wohnungsbau. Der Bedarf an mehr Wohnungen ist ja da. Ich bin aber dafür, dieses Problem intelligenter als bisher zu lösen. Ich habe ja auch nichts dagegen, Kleingärten genauer zu betrachten, aber doch nicht unter der Maxime: Jetzt baue ich großflächig Kleingärten zu. Stattdessen muss man sich mit Kleingärtnern zusammen setzen und klären: Wo sind Flächen, die ältere Kleingärtner nicht mehrbewirtschaften können? Wo kann man Flächen freimachen, die man dann bebauen kann? Da müssen endlich mal alte Vorurteile aufgebrochen werden.

Sie zitieren nicht bloß den Papst, sondern gern auch Ärzte, die sagten, Kleingärten hätten eine enorme Bedeutung für dasWohlbefinden der Menschen? Welche Punkte meinen die Mediziner?

Ärzte befassen sich seit einiger Zeit viel mehr als früher mit der Frage:Wie kann man Krankheit vermeiden? Die Antworten beginnen bei der Ernährung. Dann geht es um Bewegung und weiter in den sozialen Bereich. Wer Kontakte hat, fühlt sich wohler als ein einsamer Mensch. Kinderärzte haben vor einiger Zeit eine Untersuchung vorgestellt, nach der Kinder sich immer ungesünder ernähren und bei vielen nur noch eine Verkleinerung des Magens hilft.

So, und wo lernt ein Kind, sich zu bewegen, wo lernt es, sich gesund zuernähren? Im Garten. Dort isst man die kleine Möhre, dort klettert man auf den Baum, da spielt man Ball. In Tübingen haben Ärzte Patienten mit Sensoren ausgestattet und gemessen, dass Bäume schneiden gesünder und körperlich fordernder ist als in der Muckibude Hanteln zubiegen.

Das heißt, im Garten wird man zum Mini-Schwarzenegger?

Nein, so weit geht es sicher nicht. Aber ein Aspekt kommt zum Wohlbefinden. Im Garten bist du nicht allein. Du hast immer die Natur als Partner, weil Du ja gießen, pflanzen oder ernten musst, du hast aber in den allermeisten Fällen auch einen Menschen als Gesprächspartner. Das ist das wichtigste Element gegen die Vereinsamung. So entschleunigt man in unserer digitalen Welt. In der Eifel gibt es Parkanlagen mit Bänken, an denen große Sanduhrenstehen. Dazu Plakate, auf denen steht: Wenn Du zur Ruhe kommen willst, setz Dich so lange hin, bis die Sanduhr voll ist.

Sie müssen immer wieder nachdrücklich darauf hinweisen: Gesundheit ist ein enorm bedeutsames Argument zur Verteidigung der Kleingärten. Der Nachdruck hat ja einen Grund. Haben die Kleingärtner dieses so wichtige Argument einfach noch nicht begriffen?

Das Kleingartenwesen ist eine der größten kulturellen Errungenschaften in diesem Land. Es muss gehegt und gepflegt werden. Aber die Kleingärtner könnten dieses Kleingartenwesen noch erheblich besser als bisher leben. Sie müssen sich noch sehr viel mehrals bisher der heutigen Zeit anpassen.

Das bedeutet, viele Kleingärtner sind zu strukturkonservativ oderdeutlicher gesagt: zu piefig?

Piefig haben Sie gesagt. Sagen wir so, es ist noch unheimlich viel Luft nach oben. Da gibt es noch viel zu tun, um den Kleingärtnern eine gute Zukunft zu geben. Ich glaube viele wissen gar nicht, unter welch immensen Druck sie kommen, wenn die Stadt weiter wächst und die Flächen immer knapper werden.

Das Volksbegehren Artenvielfalt in Bayern hat aktuell mehr als eine Million Unterschriften gesammelt. In Berlin ist das Thema Artenvielfalt weit weniger präsent. Fehlt in Berlin trotz lokaler Initiativen das große Engagement für dieses Thema?

Na gut, Bayern ist ein Flächenland mit einer anderen sozialen Struktur. Aber es stimmt schon: In Berlin ist das Engagement für die Artenvielfalt noch sehr verbesserungswürdig. Vor allem wenn man weiß, dass Städte die einzige Rettungsinsel für viele bedrohte Arten sind. Die Artenvielfalt in Städten ist wesentlich größer als in den ausgeräumtenAgrarlandschaften. Deshalb wären solche Volksbegehren in Berlin sehr nötig.

Sie beklagen, dass die Kleingärtner zu wenig als Lobbyisten in eigener Sache auftreten. Haben Sie den Eindruck, dass die Politik unter dem Druck der Bau-Lobby einknickt? Es werden ja immer mehr Kleingartenanlagen als potenzielle Bauflächen ausgewiesen.

Ja. Das ist sogar verständlich. Churchill sagte: „Politiker denken in Wahlperioden, Staatsmänner in Generationen.“ Das erleben wir heute. Wie soll eine gewählte Senatorin oder ein Senator den Erfolg seiner Politik anders zeigen als durch die Zahl von Bebauungsplänen, die Zahl der Wohnungen, die Zahl neugebauter Schwimmbäder? Dieser Druck führt immer wieder zu Aktionismus und dazu, dass man sehr gerne und schnell jenen zuhört, die einem helfen, den politischen Erfolg zu erreichen. Aber der Umgang mit Natur lässt sich nicht in Legislaturperioden messen.

Aber in Berlin sind doch auch die Grünen mit an der Regierung. Haben Sie den Eindruck, dass sich die Grünen genügend für Kleingärten bzw. die Natur einsetzen?

In politischen Manifesten ja. Aber in den daraus folgenden Entscheidungen weniger. Die Regierung hat einen Kleingarten-Entwicklungsplan aufgestellt, ein Versprechen gegenüber den Kleingärtnern. Das ist die Theorie. Es gibt ja alle möglichen Entwicklungspläne, da geht es, siehe zum Beispiel Schulen, immer darum, mehr zu vergeben. Nur bei den Kleingärten geht es nicht darum, mehr Flächen auszuweisen. Deshalb ist der Kleingartenplan politisch verständlich, aber in der Praxis völliger Unsinn.

Dieser Plan zwingt die Kleingärtner dazu, konkret zu sagen, wo was als erstes abgerissen werden muss. Das ist das Gegenteil davon, was ein Entwicklungsplan eigentlich will. Aber natürlich hört sich so etwas gut an: Kleingarten-Entwicklungsplan. Man darf bloß nicht weiter fragen, was eigentlich dahinter steckt. Wenn man die Gartenanlagen ehrlich als elementaren Bestandteil der Stadt sichern will, sollte man sie in sogenannte Bezirkliche Soziale Infrastruktur-Konzepte integrieren. Das sind räumlich integrierte, bezirkliche Konzepte für die Entwicklung der öffentlichen sozialen und grünen Infrastruktur in der wachsenden Stadt Berlin. Das gibt echte Sicherheit und ist nicht nur eine tagesaktuellepolitische Willensbekundung

Von Frank Bachner